von: Team der Delegationsreise April 2024
Bericht als Broschüre (A5, PDF)
Im April 2024 fuhr eine Internationale Delegation (Anarchist*innen, Kommunist*innen, radikale Linke, Klima- und Ökologiebewegte etc.) mit circa 25 vorwiegend in der BRD lebenden Personen die zum Teil aus Europa, Asien, Afrika und Südamerika (Abya Yala) kommen in die von der Frente Polisario (Frente Popular para la Liberación de Saguía el Hamra y Río de Oro – Volksfront zur Befreiung von Saguía el Hamra und Río de Oro) verwalteten und offiziell von der UNO anerkannten Flüchtlingslager in Algerien, um sich über den Befreiungskampf der Sahrauis für ihre Unabhängigkeit und gegen die Besetzung der Westsahara durch Marokko zu informieren und ihre Solidarität zu zeigen.
Der Befreiungskampf der Sahrauis reicht bis ins 16. und 17. Jahrhundert zurück, als sie den Widerstand gegen die ersten portugiesischen und holländischen Invasoren sowie gegen die Franzosen organisierten. Hervorzuheben sind auch der Kampf gegen die französische Meharistenarmee von 1912 bis 1936, die Erhebung gegen die spanische Kolonialmacht im Jahre 1958 in Rgueya, Teguel, El Arghoub, Ausserd, Edschera sowie der Aufstand (Zemla Intifada) in El Aauín am 17. Juni 1970.
Die 1973 gegründete Frente Polisario kämpft für die Unabhängigkeit der Westsahara und rief nach dem Abzug der Kolonialmacht Spanien (1884-1975) am 27. Februar 1976 die DARS (Demokratische Arabische Republik Sahara) aus. Im Zuge des Madrid Abkommens vom 14. November 1975, 6 Tage vor Francos Tod, wurde die Westsahara aufgeteilt und völkerrechtswidrig von Marokko und Mauretanien besetzt. Zuvor wurde die Dekolonisierung 1960 und 1965 durch die UN beschlossen. Die Frente Polisario leistete bewaffneten Widerstand gegen die Besetzung.
1979 zog sich Mauretanien zurück. Doch mit Marokko wurde erst 1991, nach 16 Jahren Krieg ein Waffenstillstand vereinbart. Seitdem ist 80 % der Westsahara von Marokko besetzt, während 20 % die Frente Polisario kontrolliert. Marokko errichtet eine 2720 Kilometer lange Mauer zwischen dem besetzten und dem befreiten Gebiet, die über 150.000 Soldaten bewachen und die mit bis zu 10 Millionen Landminen kontaminiert ist.
Nach einem Beschluss vom 29. April 1991 wurde die UN-Mission MINURSO (Mission des Nations Unies pour l’organisation d’un référendum au Sahara occidental) ins Leben gerufen, um mit deren Mandat zur Durchführung eines Referendums binnen sechs Monaten über den Status der Westsahara und seine Unabhängigkeit zu entscheiden. Doch über 30 Jahre lang verweigert der marokkanische Staat jegliche Zusammenarbeit, ohne dass es zu Konsequenzen seitens der UNO gekommen wäre. Im Zuge der Besetzung durch Marokko wurden viele Bewohner*innen der Westsahara vertrieben. Ein großer Teil dieser Geflüchteten (ca. 150.00 bis 200.000) lebt heute in fünf selbstverwalteten Lagern in der Nähe der algerischen Stadt Tindouf. Nachdem Marokko im November 2020 die Waffenstillstandsvereinbarungen gebrochen hatte, nahm die Frente Polisario den bewaffneten Widerstand gegen die Besetzung wieder auf.
Unsere Delegationsreisegruppe wurde in dem Geflüchtetenlager Smara bei Gastfamilien untergebracht. Das tägliche Programm unserer Gruppe bestand aus Besuchen bei unterschiedlichen politischen und kulturellen Organisationen wie der Jugendorganisation UJSARIO, Selbstverwaltungsstrukturen der Lager, Kliniken und Ambulatorien, Regierungseinrichtungen, der Universität Tifariti, der Schule Simon Bolivar, dem Journalist*innenverband UPES, Menschenrechtsorganisationen, Bibliotheken und Museen oder der Frauenorganisation UNMS.
Der Besuch in dem Depot des sahrauischen Roten Halbmondes für Lebensmittel dokumentierte die tägliche Abhängigkeit von UN-Hilfslieferungen, die zudem seit kurzem 20% des Gesamtetats kürzten.
Aufgrund der extremen Lebensbedingungen in der Wüste (im Sommer bis zu 50 Grad) ist der Anbau von Nahrungsmitteln äußerst schwierig und die Abhängigkeit vom WFP (WorldFoodProgram) der UNO, die vor allem Reis, Mehl, Zucker, Öl, aber kaum Gemüse oder Obst liefert, sehr hoch. Schon zweimal kam es zu größeren Engpässen, 2008 gab es ernsthaftere Hungerprobleme. Von den Bewohner*innen der Camps leiden rund 87% an Eisenmangel, davon 11% an schwerem Eisenmangel aufgrund einseitiger Ernährung. Außerdem wurde bei 7% bis 10% der Kinder unter sechs Jahren Unterernährung diagnostiziert. Dafür ist die UNO und die Internationale Staatengemeinschaft mitverantwortlich, denn sie kürzen Lebensmitteletats und unternehmen keine Verbesserung der prekären Versorgungslage.
Die Besuche bei der CONASADH (La Comisión Nacional Saharaui de Derechos Humanos – Die nationale sahrauische Menschenrechtskommission) und der AFAPREDESA (Asociación de Familiares de Presos y Desaparecidos Saharauis – Vereinigung der Familien von sahrauischen Gefangenen und Verschwundenen) machte uns die massiven Menschenrechtsverletzungen, begangen durch die marokkanische Regierung an sahrauischen Aktivist*innen, begreiflich.
Das Resultat sind von 1975 bis 2024 insgesamt ca. 30.000 politische Gefangene und Inhaftierte (aktuell 46 politische Gefangene, davon 90% in marokkanischen Knästen), ca. 4500 Verschwundene (über 500 allein von 1975 bis 1977), wovon 445 bis heute noch gesucht werden, sowie Folter, Verhaftungen, Verhöre, Angriffe und Verhinderungen von Demonstrationen.
Die Offenlegung von Massengräbern ermordeter Sahrauis während des Krieges von 1976-1991 ist wichtiger Bestandteil der Dokumentationsarbeit. So leistete 2013 auch ein Baskischer Verein Unterstützung bei der Exhumierung und darauffolgenden Einbettung gefundener Knochen.
Von den bisher 15 entdeckten Massengräbern befanden sich auch einige in touristischen Zentren.
Seit 2020 kommt es durch die marokkanische Armee zu massiven Drohnenangriffe auf die Zivilbevölkerung in dem befreiten Gebiet, die bisher zu etlichen Toten (mindestens 89, Stand April 2024) führte. Als Folge dessen wurden viele der ca. 20.000 bis 30.000 dort lebende Menschen vertrieben – wovon die meisten in die Camps flüchteten.
Hinzu kommen Opfer der Landminen, die an der 2720 Km langen Mauer von der marokkanischen Armee vergraben sind und explodieren, wenn man auf sie tritt. 2600 dieser Opfer leben in den Camps und einige Organisationen unterstützen sie mit Prothesen.
AFAPREDESA, die 1989 gegründet worden war, ist in der von Marokko besetzten Westsahara verboten, agiert dort klandestin, hat über 700 Mitglieder und wird insbesondere von Frauen getragen, die den Großteil der Organisation stellen und die meiste Arbeit leisten. Eine deutliche Kritik wurde an der Untätigkeit des Roten Kreuzes formuliert, zu der es kaum Kontakt nach den Entdeckung neuer Massengräber 2013, an dessen Suche sie nicht beteiligt gewesen waren, gab.
So setzt sich das, auch in den Camps vertretene, Rote Kreuz nicht für die politischen Gefangenen Sahrauis ein. Insbesondere für sie ist die Situation schwierig. Alle sind gesundheitlich angeschlagen, viele leiden unter Nieren und Herzproblemen oder haben Ausschlag, viele werden misshandelt und gefoltert. Sie haben kein Zugang zu Bildung, gesundheitlicher Versorgung und auch Kontakt zu ihren Familienangehörigen. Aus all diesen Erwägungen gab es bereits mehrere Hungerstreiks der Gefangenen, die internationale Unterstützung viel bisher gering aus.
Das Treffen mit der Frauenorganisation UNMS (Union Nacional de Mujeres Saharauis – Nationale Union der sahrauischen Frauen), die 1974 gegründet worden war und über 10.000 Mitglieder hat, unterstreicht die immense Bedeutung eigenständiger Organisierung der Frauen. Die Campstrukturen wurden maßgeblich von Frauen aufgebaut und werden bis heute von ihnen in zentralen Positionen verwaltet. Die UNMS, die in vier Gebieten, in dem besetzten Teil Westsaharas, in der befreiten Westsahara, in Algerien sowie in der sahrauischen Diaspora tätig ist, organisiert sich in einem Nationalkongress, der in regelmäßigen Abständen 66 Frauen als Vertreterinnen wählt und in zehn unterschiedlichen Themenbereichen involviert ist: Aussenpolitik, Verwaltung/Organisierung, Informations- und Kulturarbeit, Familie/Gesundheit, Ausbildung, Produktion, Kooperation, Besetzte Gebiete/Emigration, Soziales, Bildung und Verwaltung der Wilayas (eine Wilaya ist eine Campstadt).
Die Frauen, die am bewaffneten Kampf bis 1991 beteiligt waren und Teil der Befreiungsarmee der Frente Polisario sind, sind heute an vorderster Front im Widerstand, insbesondere im besetzten Teil der Westsahara und stellen mit 42% der Delegierten im Nationalkongress, die höchste Quote in ganz Afrika.
Sie sind darüber hinaus in der Sozialistischen Internationalen, im Afrikanischen Frauenverband, im Panafrikanischen Kongress, und in weiteren Anti-faschistischen und Anti-imperialistischen Organisationen vertreten. In jeder Wilaya gibt es ein Frauenhaus zur Organisierung der Frauen. Nach wie vor „gäbe es aber machistisches Gedankengut oder eine Art so zu denken“, so eine der von uns interviewten Frauen. Im Vergleich zu anderen Ländern sei die Zahl der Fälle von Gewalt gegen Frauen aber geringer. Ein Problem seien auch verinnerlichte Genderrollen, wie z.B. bei der Hausarbeit. Nach diesem Treffen und mit weiteren organisierten Frauen wurde uns allen klar, dass es die Frauen sind, die die zentrale Rolle in der sozialen und politischen Selbstverwaltungsstruktur aller 5 Geflüchtetenlager innehaben. Besonderen Respekt wurde den kurdischen Frauen in dem bewaffneten Kampf als Ausdruck internationaler Solidarität gezollt.
Ein zentraler Besuchspunkt war das Widerstandsmuseum, das uns durch die Geschichte des Widerstand und Befreiungskampfes gegen die kolonialen Besetzungen von Spanien (1884-1976) und Marokko führte. Dort ausgestelltes erbeutetes Kriegsmaterial der marokkanischen Armee stammte auch aus deutscher Produktion. In den letzten zehn Jahren lieferte Deutschland Rüstungsgüter im Wert von über 200 Millionen Euro, darunter Überwachungstechnologie (Bodenradar) zur Grenzsicherung, unbemannte Luftfahrzeuge, Bordwaffensteuersyteme, Teile für Kanonenmunition sowie Kommunikationstechnologie. Die Waffenexporte aus Deutschland, der EU und den USA tragen maßgeblich zur Aufrechterhaltung der Besatzung durch Marokko bei.
Der Besuch bei SMACO (Sahrawi Mine Action Coordination Office – Sahrauisches Koordinationsbüro für Minenräumung) vor Ort führte uns auch die Verwicklung internationaler Konzerne in die Produktion und Lieferung von Drohnen vor Augen. So kommen von der marokkanischen Armee eingesetzte Drohnen und deren Technologie aus Israel (z.b. von dem Konzern Elbit), Türkei, VAE, China, USA aber auch Deutschland. Die TB2-Bayraktar Drohne aus der Türkei, die auch in Kurdistan eingesetzt wird, fliegt mit elektrooptischer Sensorik und Lasertechnologie der Firma Hensoldt aus Taufkirchen sowie mit MAM-Raketen, basierend auf gelieferten Gefechtsköpfen der Firma TDW Wirksysteme GmbH aus Schrobenhausen.
Aber auch an der Ausbeutung durch Rohstoffabbau- und Lieferung, Energieproduktion und wirtschaftlicher Kooperation mit dem Besatzungsregime Marokko beteiligen sich deutsche Konzerne wie etwa Siemens, HeidelbergCement (Materials), Thyssen-Krupp und andere. Siemens lieferte und installierte 22 Windturbinen für den 50-MW-Windpark Foum el Oued, welche 2013 in der besetzten Westsahara anliefen. Thysen-Krupp beteiligt sich am Phosphat-Abbau, HeidelbergCement beteiligt sich über eine marokkanische Tochtergesellschaft (Cimenst du Maroc) an zwei Zementfabriken. Ausführlichere Informationen zur Beteiligung deutscher und europäischer Unternehmen an der Ausbeutung der Westsahara finden sich auf der Webseite der Organisation Western Sahara Resource Watch.
Schliesslich konnten wir eine Reihe interessanter Interviews, u.a. mit Embarka Bumajruta, einer der Gründer*innen der Frente Polisario oder mit Elghalia Djimi, Menschenrechtsaktivistin und ehemalige politische Gefangene in der Westsahara durchführen, welche wir zu einem späteren Zeitpunkt veröffentlichen.
Im Anschluss der Reise haben einige noch an dem jährlich stattfindenden Internationalen Filmfestival FiSahara im Wilaya Ausserd teilgenommen. Die Preise des diesjährigen Festivals unter dem Motto Resistir es Vencer (Widerstehen heisst Siegen) gingen an den palästinensischen Spielfilm 200 Meter, den Dokumentarfilm Insumisas über den Widerstand von Frauen in der Westsahara und an Igualada über die afro-kolumbianische Aktivistin und Politikerin Francia Márquez.
Die Existenz der Camps seit 1975 und das Leben unter widrigsten Bedingungen verdeutlichte uns permanent die erzwungene gewaltsame Vertreibung der sahrauischen Bevölkerung durch den marokkanischen Staat. Dabei erlebten wir einen ungebrochenen Willen zur Rückkehr und der Befreiung von der Besatzung. Dass das Leben im Exil nur vorübergehend sei und der Widerstand bis zur Befreiung der Westsahara fortgesetzt werde, hörten wir täglich.
Für uns als Internationalist*innen gilt es, diesen Widerstand mit allen uns zur Verfügung stehenden Mittel zu unterstützen und jene kolonialen und imperialistischen Strukturen, Staatsregierungen und Multinationalen Konzerne hier in Deutschland und der EU, die von der Besatzung Marokkos profitieren und sie somit ermöglichen und aufrecht erhalten, anzuprangern und zu bekämpfen.
Wir stehen für den Prozess der Dekolonisierung weltweit.
Freiheit für Westsahara, Freiheit für Palästina, Freiheit für Kurdistan, Freiheit für Kanaky.
Freiheit für alle von Kolonisierung Unterdrückte und Verdammte dieser Welt.
Team der Delegationsreise April 2024
August 2024
Literaturtipps:
* Westsahara – Afrikas letzte Kolonie Judit Tavakoli, M. Hinz, Werner Ruf, Leonie
Gaiser (Hrsg.) – 2021
* Western Sahara – War, Nationalism, and Conflict Irresolution Stephen Zunes,
Jacob Mundy – 2022
* Breve historia del Frente Polisario Emboirik Ahmed Omar – 2023
* Sahara Occidental – Un viaje a la libertad Taleb Alisalem – 2023
* Profit over Peace in Western Sahara Erik Hagen, Mario Pfeifer (Eds.) – 2018